Im Bundesgesetzblatt Jahrgang 2017 Teil I Nr. 75 wurde die „Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach* (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) vom 24. November 2017“ veröffentlicht.
Auf den ersten Blick liest sich der Text wie eine der üblichen entsprechenden Verordnungen, man neigt dazu, das zu ignorieren, denn irgendjemand wird sich ja darum kümmern. Dieser „Irgendjemand“ sind die Softwareersteller (also wir). Entsprechend werfen wir nicht nur einen kurzen Blick in den Text, sondern versuchen auch, ihn zu verstehen und nachzuvollziehen. Dieser kurze Blogeintrag soll einen ersten Eindruck vermitteln, welche grundsätzlichen Konstruktionsfehler – man könnte sagen: „wie nicht anders zu erwarten“ – in der Verordnung enthalten sind, die im Nachgang zumindest erhebliche technische Probleme – wenn nicht sogar Rechtsunsicherheiten – erzeugen. Dieser Blogeintrag erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern gibt nur die ersten Eindrücke wieder:
1) §2 Abs. 1: „Das elektronische Dokument ist in …, durchsuchbarer Form im Format PDF zu übermitteln“
Offensichtlich haben sich die Verfasser dieser Verordnung noch niemals mit optischer Zeichenerkennung befasst, denn sonst wüssten sie, dass es eine gewisse Fehlerquote gibt, die auf absehbare Zeit nicht auf digitalem Wege auf Null reduziert werden kann. Gerade diese Fehlerkennungsquote führt bei elektronischen Dokumenten dann dazu, dass gegebenenfalls essentielle Teile nicht gefunden werden. Bei optischer Zeichenerkennung sind die größten Fehlerquellen Eigennamen, Aktenzeichen, jegliche Form von Kennziffern (also auch Kontonummern, Bankleitzahlen, IBANs, BICs, Geschäftszeichen etc.). Durchsuchbarkeit von Dokumenten klingt schön und gut, aber wenn der Gesetzgeber dies einfordert (auch mit der Einschränkung „sofern möglich“), so muss er sich auch zwingend dazu äußern, wie mit den Konsequenzen einer Fehl- oder Nichterkennung umzugehen ist. Wie ist die Beweislast verteilt, wenn Dokumente eingereicht werden, die einen Sachverhalt ganz offensichtlich enthalten, dieser Sachverhalt jedoch (vielleicht einfach wegen eines ungünstigen Zeichensatzes) im Rahmen einer optischen Zeichenerkennung falsch aufbereitet und dann nicht mehr gefunden wird? Wer trägt hier die Verantwortung?
Nebenbei steht hierbei die überaus berechtigte Frage im Raum, wer dafür überhaupt die Kosten trägt. Es gibt mehrere Systeme für optische Zeichenerkennung, die ihre verschiedenen Vor- und Nachteile haben und unterschiedlich viel Geld kosten. In jedem Falle gilt jedoch, dass sie eben Geld kosten. Einerseits ist entsprechende Hardware nötig, die diese Arbeit überhaupt leisten kann (bei umfangreichen Schriftsätzen sind selbst leistungsstarke Computer durchaus ausgelastet), andererseits muss Software angeschafft und auch gewartet werden. Die Erfüllungskosten für die Wirtschaft sind dementsprechend hoch anzusetzen. Eine sehr stark vereinfachte Betrachtung verdeutlicht dies. Ausgehend von 100.000 Arbeitsplätzen (das dürfte bei alleine 160.000 Rechtsanwälten eine extrem defensive Betrachtung sein):
OCR-fähiger Computer Lebensdauer 4 Jahre: 1.000,- €
OCR-Software Anschaffung: 300,- €
Entspricht einem (zwingenden) Investitionsvolumen von 1.300,-*100.000=130 Mio €
Hinzu kommen Wartungskosten für die Software und PC-Hardware von min. 200,- € jährlich, das bedeutet zusätzliche Kosten in Höhe von 20 Mio €
Nun könnte man natürlich sagen: „Alles halb so wild, das betrifft ja nur umgewandelte Dokumente“. Dem kann mit einem sehr einfachen Beispiel gegengehalten werden. Der originale Veröffentlichungstext aus dem Bundesgesetzblatt (dieser Text ist von Hause aus durchsuchbar erstellt, musste also gar nicht erst umgewandelt werden) ergibt via Copy und Paste folgendes Ergebnis:
„B e son de re s e l e k t ron i s c h e s Be h ö rd e n p o s t f a c h“
Man beachte hier die innovativ eingestreuten Leerzeichen. Eine Suche in diesem Text nach dem einfachen Wort „Behördenpostfach“ gibt – erwartungsgemaß – keine Ergebnisse. Wenn es nicht so bitter wäre, dann wäre es amüsant, dass der Gesetzgeber selbst im Rahmen der Veröffentlichung einer Verordnung den Beweis erbringt, dass ein Teil genau dieser Verordnung nicht funktioniert.
2) §2 Abs. 2: „Der Dateiname soll den Inhalt des elektronischen Dokuments schlagwortartig umschreiben und bei der Übermittlung mehrerer elektronischer Dokumente eine logische Nummerierung enthalten“
Man muss schon zum Thesaurus greifen, um sich in seiner Wortwahl nicht zu wiederholen. In sämtlichen Fachgremien der Justiz und Verwaltung (z.B. beA) ist es ein Thema, dass komplexe Dateinamen zu erheblichen Problemen führen:
1) Es gibt keine Standards für die Kodierung von Umlauten in Dateinamen, diese werden auf unterschiedlichen Systemen unterschiedlich dargestellt, sind mithin häufig nicht lesbar.
2) Windows-Systeme haben eine Längenbeschränkung für Dateinamen, die bei maximal 256 Zeichen liegt (inkl. der Pfadangabe). Das führt dann sehr schnell dazu, dass eine Datei auf einem System lesbar und auf einem anderen System nicht mehr lesbar ist (schlicht weil die Datei auf dem anderen System in einem Unterverzeichnis mit längerem Namen abgespeichert wurde). Wenn der Name eine Schlagwortdarstellung sein soll, dann gehört zwingend eine Definition für eine Maximallänge sowie der Hinweis auf ein Verzicht auf Sonderzeichen in die Verordnung hinein. Die häufig vertretene Auffassung, dass der Gesetzgeber nicht alles regeln kann, und dass gesunder Menschenverstand und technische Sachkenntnis schon für eine sinnvolle Umsetzung sorgen werden, geht vollkommen fehl, denn einerseits zeigt die langjährige Erfahrung, dass der technische Sachverstand (insbesondere bei der Justiz) in der Regel schlicht nicht vorhanden ist und andererseits wäre diese Argumentation ein Zirkelschluss, denn es würde damit argumentiert, dass Sachverstand ein Problem löst, welches der gleiche Sachverstand nicht einmal erkannt hat.
Über die vollkommene Unzulänglichkeit hinsichtlich der Aussage „eine logische Nummerierung enthalten“ kann man kaum etwas sagen. Jeder, der schon mal versucht hat, mit einfachen Mitteln (also z.B. dem Explorer) eine nummerierte Dateiliste in korrekter Reihenfolge anzuzeigen, wird wissen, dass eine angezeigte Reihenfolge für die Dateien „1, 2, 3, 4, …, 11, 12, …30, …“ nicht in der Form erfolgt, wie man es erwartet, sondern in der Reihenfolge „1, 11, 12, 2, 3, 30, 4“. Logische Numerierungen unterliegen mannigfaltigen Konventionen und sind sämtlichst in der Regel inkompatibel mit sinnvollen Dateisystem-Darstellungen. Dabei muss noch nicht einmal darüber gesprochen werden, welche potentiellen Probleme sich durch Trennungspunkte in Dateinamen ergeben.
Dies ist nur der erste Eindruck über eine sehr weitreichend undurchdachte Verordnung. Es ist in keinster Weise verwunderlich, dass Deutschland zunehmend zum digitalen Schlusslicht wird.
Andre Koppel